Insolvenz Update
Experten-Interview: Warum Unsicherheit den Anstieg von Insolvenzen befeuert
Allianz Trade prognostiziert einen Anstieg der Unternehmensinsolvenzen um 9 %. Welche Maßnahmen sind Ihrer Erfahrung nach wirksam, um Insolvenzen abzuwenden?
Mick McAteer Das Wichtigste bei jeder Restrukturierung ist, das endgültige Ergebnis einer Liquidation oder Zwangsverwaltung – je nach Rechtsraum – zu vermeiden. Präventive Restrukturierungsmaßnahmen sind unerlässlich, und die europäische Richtlinie verpflichtet alle EU-Länder, einen präventiven Restrukturierungsrahmen (PRD) zu implementieren. Obwohl jedes Land unterschiedliche Verfahren eingeführt hat, sind dies entscheidende Instrumente, um eine Insolvenz zu verhindern, indem Unternehmen restrukturiert werden, bevor sie einen kritischen Punkt erreichen.
Wie können digitale Tools diesen Prozess unterstützen oder verbessern?
Mick McAteer Das Wichtigste für jedes Unternehmen ist der Zugriff auf präzise Daten. Entscheidungen, die auf klaren, präzisen und genauen Daten basieren, verbessern die Arbeit aller Beteiligten, sei es auf der Beratungsseite einer Restrukturierung oder innerhalb des Unternehmens selbst. Umgekehrt führen ungenaue Daten zu Fehlentscheidungen. Ebenso entscheidend ist es, die Quelle der Daten zu verstehen, zu interpretieren, was diese Daten offenbaren, und sie effektiv zu nutzen – nicht unbedingt, um die Zukunft vorherzusagen, sondern um Chancen, Schwächen und Stärken innerhalb des Unternehmens zu erkennen.
Warum erleben wir derzeit einen Anstieg der Unternehmensinsolvenzen?
Mick McAteer Der deutliche Anstieg der Unternehmensinsolvenzen, den wir derzeit erleben, ist meines Erachtens weitgehend auf unsere Position im Konjunkturzyklus zurückzuführen. Wir haben einen starken Zinsanstieg erlebt, und viele Unternehmen, die im Anleihemarkt tätig sind, haben sich in den Jahren 2018, 2019 oder 2020 Finanzierungen mit Laufzeiten von 5 bis 7 Jahren zu Zinssätzen von etwa 0-1 % gesichert. Diese Kredite müssen jetzt verlängert werden, und die neuen Zinssätze liegen oft bei 8-11 %. Das schafft eine erhebliche Belastung, insbesondere für Unternehmen, die in Sektoren tätig sind, die ohnehin schon unter dem Druck von Lohn- und Lieferketteninflation ächzen. Diese kämpfen mit gestiegenen Kosten und einer schwächeren Umsatzentwicklung, während ihre Finanzierungskosten drastisch gestiegen sind – einer der Gründe für den aktuellen Anstieg der Unternehmensinsolvenzen.
Es ist also vergleichbar mit dem Immobilienmarkt, wo man ein Haus kauft und die Kreditkonditionen auslaufen, was möglicherweise zu viel höheren Zinssätzen in der nächsten Periode führt?
Mick McAteer Genau, und obwohl variable Zinssätze wahrscheinlich im nächsten Zeitraum zu sinken beginnen werden, restrukturieren sich die meisten Unternehmen, die dem Anleihemarkt ausgesetzt sind, jetzt wahrscheinlich auf drei- bis fünfjährige Festzinsen, die deutlich höher sind als die sonst geltenden variablen Bankzinssätze.
Zu den Sektoren mit den höchsten Insolvenzraten gehören Bauwesen, Einzelhandel, Gastgewerbe und Fertigung, insbesondere in Europa und dem Vereinigten Königreich, die mit anhaltend hohen Kosten durch Energie und Lohnzahlungen konfrontiert sind.
Mick McAteer In ganz Europa stehen diese Sektoren aus unterschiedlichen Gründen unter Druck. Im Bauwesen und in der Fertigung beispielsweise haben Inflation auf allen Ebenen – von steigenden Löhnen über Lieferkettenprobleme bis hin zu höheren Transportkosten – eine doppelte Belastung geschaffen. Es geht dabei nicht nur um die Arbeitskosten, sondern auch um die stark gestiegenen Preise für Rohstoffe und Waren. Diese Kostenexplosionen lassen sich kaum durch höhere Verkaufspreise auffangen.
Im Bauwesen zeigt sich dies sowohl im Bereich des privaten Wohnungsbaus als auch in den damit verbundenen Finanzierungsproblemen. Auf der gewerblichen Seite sind die Auswirkungen der COVID-Zeit weiterhin spürbar, da viele Menschen zögern, vollständig ins Büro zurückzukehren. Hybrides Arbeiten und Homeoffice verringern die Nachfrage nach Büroflächen, was die Preise drückt, während die Baukosten steigen – eine schwierige Situation für Unternehmen mit knappen Margen.
Im Einzelhandel und Gastgewerbe stehen die hohen Lohnkosten im Vordergrund. Der Einzelhandel hat sich in den vergangenen fünf bis zehn Jahren stark gewandelt: Innenstadthändler leiden darunter, dass weniger Menschen ins Büro zurückkehren und der Onlinehandel zunehmend dominiert. Das Gastgewerbe spürt die Auswirkungen des sinkenden verfügbaren Einkommens besonders stark. Steigende Zinsen, Lohninflation und höhere Lebenshaltungskosten schaffen Unsicherheit, was zu einem Rückgang der Konsumausgaben führt. Historisch gesehen ist das Gastgewerbe ein verlässlicher Indikator für den wirtschaftlichen Zustand und das Vertrauen der Verbraucher in ihre finanzielle Zukunft
Für Privatpersonen ist also Unsicherheit ebenfalls das zentrale Thema, ähnlich wie bei den Unternehmen …
Mick McAteer Man darf das Vertrauen der Menschen in ihre Arbeitsplatzsicherheit nie unterschätzen. Vertrauen kann sich schnell in einem Markt etablieren, aber ebenso schnell wieder verschwinden. Innerhalb von nur drei bis sechs Monaten kann das Gefühl großer Sicherheit in die Zukunft einer Unsicherheit weichen. Die Menschen fühlen sich nicht unbedingt negativ, sondern eher unsicher, was dazu führt, dass sie ihre Ausgaben zurückhalten, da sie nicht wissen, was in den nächsten sechs bis zwölf Monaten passieren wird.
Wie können Unternehmen in belasteten Sektoren ihre Beziehungen zu Stakeholdern in schwierigen Zeiten managen?
Mick McAteer Man kann in Krisenzeiten nicht zu wenig mit seinen Kunden, Lieferanten, Mitarbeitern oder Partnern kommunizieren. Besonders in betroffenen Sektoren wie dem Bauwesen ist es von zentraler Bedeutung, dass Lieferanten, Banken und Geldgeber die Herausforderungen verstehen. Wenn Unternehmen nicht aktiv den Kontakt zu ihren Stakeholdern suchen und zeigen, dass sie die Lage im Griff haben und nach Lösungen zur Kostensenkung suchen, entgeht ihnen wichtige Unterstützung. Nach meiner Erfahrung haben Unternehmen, die eine offene Kommunikation mit ihren Stakeholdern aufrechterhalten, wesentlich bessere Chancen, eine wirtschaftliche Flaute zu überstehen, als jene, die versuchen, das Problem allein zu bewältigen.
Trotz Krisen wie Covid, Energieproblemen, Lieferkettenstörungen und dem Krieg in der Ukraine ist die Anzahl der notleidenden Kredite (NPLs) bisher niedrig. Woran liegt das, und erwarten Sie einen Anstieg?
Mick McAteer Staatliche Hilfen haben ein Sicherheitsnetz im Markt geschaffen, das es ermöglicht hat, die Fristen zu verlängern. Die Inhaber der notleidenden Kredite (NPLs) haben die Laufzeiten ausgeweitet, da das Sicherheitsnetz alles über Wasser gehalten hat. Meine Sorge war stets, dass solche Verlängerungen nur begrenzt wirksam sind und man sich letztlich mit dem zugrunde liegenden Problem auseinandersetzen muss. In einer wachsenden Wirtschaft könnte der Markt diese Lücke überbrücken, und die NPLs könnten sich erholen und wieder zu guten Krediten werden. Allerdings denke ich nicht, dass wir nach dem Ende dieser staatlichen Hilfen eine Stärkung des Marktes erlebt haben. Der Markt hat sich geschwächt, nicht erholt, weshalb das ursprüngliche Problem weiterhin besteht. Aus diesem Grund erwarte ich, dass die Zahl der NPLs in naher Zukunft steigen wird.
Wie können Banken und andere Kreditgeber in Zeiten wie diesen steigende regulatorische Anforderungen und höhere Risikovorsorge effizienter bewältigen, ohne ihre Kreditvergabe einzuschränken?
Mick McAteer Erfahrene Banker verstehen die zyklische Natur des Marktes. Es gibt gute und schlechte Zeiten, in beiden Phasen kann man Kredite vergeben. Interessanterweise kann die Kreditvergabe in einem sehr starken Markt manchmal besonders riskant sein, da der Wettbewerb intensiver wird und mehr Geld in den Markt fließt. Im Gegensatz dazu können einige der profitabelsten Kredite während eines Abschwungs vergeben werden, weil die Qualität der Kreditentscheidungen in solchen Zeiten oft besser eingeschätzt werden kann.
Alles hängt von den Daten ab – vom Verständnis des Marktes, in den man Kredite vergibt, seiner zyklischen Natur und der Kenntnis der Wettbewerbslandschaft. Es ist entscheidend, die Stärken und Schwächen des Kreditnehmers und die Fähigkeit seines Managementteams richtig einzuschätzen.
Regulatorische Anforderungen wie ESG, AML und KYC haben die Geschäftskosten im Bankwesen erheblich erhöht. Diese Schutzmaßnahmen sind notwendig, erhöhen jedoch die Kosten, die letztlich an die Endnutzer weitergegeben werden.
Ist das Ausmaß der Compliance-Vorschriften noch angemessen?
Mick McAteer Leider halte ich das Ausmaß der Vorschriften für angemessen. Viele wurden eingeführt, um gegen unlautere Akteure im Markt vorzugehen, die zunehmend raffinierter werden. Das System muss sich daher ständig anpassen. Die Folge davon ist, dass die regulatorische Last auf die Frontline-Banker und andere Kreditgeber abgewälzt wird. Sie sind diejenigen, die all diese Anforderungen umsetzen müssen. Es mag nicht immer gerecht erscheinen, aber ich sehe keine andere Möglichkeit, das zu regeln.
Der Druck, regulatorische Anforderungen umzusetzen, ist definitiv bei den Banken angekommen, das hat sich in einem von Aryza veranstalteten Webinar zum Thema ESG in der Kreditvergabe gezeigt.
Mick McAteer Das stimmt, und ESG bewegt sich zunehmend von der Theorie in die Praxis. Man sieht eine klare Entwicklung, bei der grüne Anleihen und Kredite günstigere Finanzierungen bieten, wenn Unternehmen die notwendigen ESG-Kriterien erfüllen. Unternehmen, die sich anpassen, können günstigere Kredite erhalten, während jene, die dies nicht tun, mit höheren Finanzierungskosten rechnen müssen. Für Banken besteht die Herausforderung darin, die günstigste Finanzierungsquelle zu finden, und im Moment gehören ESG-Anleihen zu diesem günstigeren Markt. Allerdings sind die Banken hier eher Abnehmer als Geber, da sie auf die Marktdynamik angewiesen sind, um von diesen Finanzierungsvorteilen zu profitieren.
In vielen Ländern sind die persönlichen Insolvenzen weiterhin auf einem niedrigen Niveau. Erwarten Sie einen verzögerten Anstieg im Anschluss an den Anstieg der Unternehmensinsolvenzen?
Mick McAteer Viele Institutionen haben die Kreditlaufzeiten so lange wie möglich verlängert, insbesondere mit den Unterstützungsmaßnahmen. Jetzt, da diese Hilfen wegfallen, bleiben die zugrunde liegenden Probleme bestehen, da der Markt weiterhin relativ schwach ist. Meiner Ansicht nach wird dies voraussichtlich zu einem deutlichen Anstieg der persönlichen Insolvenzen führen.
Das ist vergleichbar mit dem Konzept der 'Zombie-Unternehmen'. Auch 'Zombie-Individuen' helfen der Wirtschaft langfristig nicht. Wenn Schuldner nicht vorausplanen können und gezwungen sind, alte, übermäßige Schulden Monat für Monat abzuzahlen, fällt es ihnen schwer, voranzukommen. Sie sehen keinen Ausweg, was sie daran hindert, den nächsten Schritt in ihrem Leben zu machen.
Wie schätzen Sie die künftige Entwicklung der globalen Insolvenzen ein, insbesondere im Hinblick auf sich verändernde Regulierungen und die globalen wirtschaftlichen Unsicherheiten?
Mick McAteer Unternehmen sind in der Regel sowohl bei politischen als auch bei wirtschaftlichen Fragen einen Schritt voraus. Es sei denn, es handelt sich um einen plötzlichen Schock wie der Beginn des Ukraine-Kriegs. Was Unternehmen nicht mögen, ist Unsicherheit. Bis zu einem gewissen Grad lassen sich schlechte Regulierung und ungünstige wirtschaftliche Bedingungen bewältigen, solange diese klar planbar sind und eine gute Kommunikation stattfindet. Unternehmen können dann recht gut reagieren, solange der Sektor, in dem sie tätig sind, nicht von zentralen Faktoren wie etwa Energie besonders stark betroffen ist.
Wie beeinflussen die jüngsten und bevorstehenden Wahlen die Reaktionen von Unternehmen?
Mick McAteer Die jüngsten Wahlen in Frankreich, Großbritannien und Europa haben auf dem Kontinent zu einer Rückkehr einiger politischer Stabilität geführt. Im Vereinigten Königreich bringt die deutliche Mehrheit der Labour Party, meiner Ansicht nach, die dringend benötigte Stabilität für den Markt. Dies ermöglicht langfristige Planungen, nicht nur für die nächste Legislaturperiode, sondern für die kommenden fünf bis zehn Jahre, was mich optimistisch stimmt, dass diese Veränderungen die britische Wirtschaft erheblich stärken werden.
Die bevorstehende US-Wahl bleibt hingegen eine bedeutende Quelle der Unsicherheit. Sobald die Ergebnisse klar sind, werden Unternehmen voraussichtlich angemessen reagieren. Wirtschaftlich wird die US-Reaktion wahrscheinlich positiv ausfallen, egal ob ein Republikaner oder Demokrat gewinnt; jedoch würde ein unklarer Ausgang Probleme schaffen.
Dennoch bleibt die Unsicherheit in Bezug auf Themen wie Einwanderung und den Aufstieg des Populismus in Europa ein Anliegen. Die Tatsache, dass populistische Parteien bei den jüngsten Wahlen in Europa nicht an bedeutendem Einfluss gewonnen haben, ist ein positives Zeichen. Doch wir sind immer nur eine Wahl davon entfernt, dass die Unsicherheit in einem Land erneut aufkommt.
Hybrides Arbeiten und Homeoffice verringern weiterhin die Nachfrage nach Büroflächen.